9. Januar 2021
Seit Dezember 2018 können Menschen, die weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden können, mit der Angabe „divers“ im Geburtenregister eingetragen werden [1]. Dieses sogenannte dritte Geschlecht kommt für Personen in Frage, deren Geschlecht nicht eindeutig den biologischen Kategorien „männlich“ oder „weiblich“ entspricht. Was aber entspricht den biologischen Kategorien „männlich“ und „weiblich“ und kann das menschliche Geschlecht überhaupt kategorisiert werden?
Seit dem 22. Dezember 2018 können Menschen, die weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden können, auch „ohne eine solche Angabe oder mit der Angabe ‚divers’ in das Geburtenregister eingetragen werden“ [1, 2]. Diese Regelung wurde unter § 22 Absatz 3 und § 45b im Personenstandsgesetz eingefügt [2, 3].
§ 45b bezieht sich hierbei ausschließlich auf „angeborene Variationen der genetischen, hormonalen, gonadalen und genitalen Anlagen eines Menschen mit der Folge, dass das Geschlecht einer Person nicht mehr eindeutig den biologischen Kategorien ‚männlich’ oder ‚weiblich’ entspreche.“ [4] Der Bundesgerichtshof hat die mögliche Änderung des Personenstandes ausdrücklich auf intergeschlechtliche Personen mit dem ärztlich nachgewiesenen Fehlen einer eindeutig weiblichen oder männlichen körperlichen Geschlechtszuordnung beschränkt [5]. Das heißt, dass Personen mit körperlich eindeutig weiblichem oder eindeutig männlichem Geschlecht von der Gesetzesänderung ausgeschlossen werden, sodass bislang ein abweichendes subjektives Geschlechtsempfinden, wie es unter anderem bei transsexuellen Menschen der Fall ist, nicht berücksichtigt wird. Aus diesem Grund wird § 45b auch immer wieder kritisiert [1, 6].
Was aber sind eigentlich die genetischen, hormonalen, gonadalen und genitalen Anlagen des menschlichen Geschlechts und wann werden sie als „männlich“ und wann als „weiblich“ kategorisiert?
Die Unterscheidung von männlich und weiblich beim Menschen scheint auf den ersten Blick recht einfach:
Äußerlich können beide Geschlechter anhand der typischen Geschlechtsorgane und Geschlechtsmerkmale wie Vagina und Penis unterschieden werden; dies ist die genitale Anlage. Mit den gonadalen Anlagen ist die Unterscheidung zwischen Eierstöcken und Hoden gemeint. Die Gonaden werden auch Keimdrüsen oder Geschlechtsdrüsen genannt und sind die Geschlechtsorgane, in denen einige Sexualhormone und sämtliche Keimzellen gebildet werden [7]. Auf physiologischer Ebene unterscheiden sich die Geschlechter deswegen anhand geschlechtsspezifischer Hormone wie Östrogen und Testosteron, die also die hormonalen Anlagen bilden [8]. Auf genetischer Ebene lassen sich die beiden Geschlechter anhand der geschlechtsspezifischen Chromosomenpaare XX und XY unterscheiden [8].
Eigentlich also ganz einfach: Ein Mensch mit dem weiblichen Chromosomenpaar XX entwickelt die entsprechenden weiblichen Sexualhormone und Keimdrüsen und es entwickeln sich die entsprechenden weiblichen Genitalien. Bei Männern mit den Geschlechtschromosomen X und Y verläuft die Entwicklung hingegen in die typisch männliche Richtung.
Es gibt allerdings auch Menschen mit biologischen Geschlechtsmerkmalen, die die Geschlechtszuweisung zu „männlich“ oder „weiblich“ erschweren, und die Person kann intersexuell sein. Das biologische Geschlecht mancher Menschen kann also als „divers“ bezeichnet werden und die eindeutige Kategorisierung eines Menschen in „männlich“ und „weiblich“ ist unter Umständen gar nicht so einfach [9, 10].
Bevor wir darauf im Detail eingehen, betrachten wir zunächst ganz allgemein die biologische Definition von männlich und weiblich. Wie wird das Geschlecht bei Tieren mit im Vergleich zu Menschen völlig unterschiedlichen Geschlechtsorganen festgelegt? Wird immer das weibliche Tier schwanger? Ist das männliche Geschlecht immer durch ein ungleiches Paar an Geschlechtschromosomen definiert? Ein Blick ins Tierreich verrät, dass die Unterscheidung der Geschlechter definitiv nicht durch die gerade genannten Faktoren erfolgt. In der Familie der Seenadeln, zu denen auch die Seepferdchen gehören, werden die Männchen schwanger. Männliche Seepferdchen haben eine Brusttasche, in die die Weibchen die Eier legen und in der wahrscheinlich auch die Befruchtung der Eier stattfindet. In dieser Brusttasche schlüpfen anschließend die Nachkommen [11, 12]. Schwangerschaft ist also nicht das ausschlaggebende Unterscheidungsmerkmal. Wie sieht es mit den Chromosomen aus? Zwar besitzen bei den meisten Säugetieren die Männchen die Geschlechtschromosomen X und Y, während Weibchen zwei X-Chromosomen haben, doch ist dies beispielsweise bei Vögeln genau umgekehrt. Männliche Vögel haben zwei Z-Chromosomen, während weibliche Vögel je ein Z- und ein W-Chromosom besitzen [13]. Die Geschlechtschromosomen sind für die Entwicklung der beiden Geschlechter ausschlaggebend, sie eignen sich aber nicht für eine artübergreifende Definition von „männlich“ und „weiblich“.
Die Unterteilung in männlich und weiblich wird aus biologischer Sicht auf zellulärer Ebene getroffen. Das Geschlecht wird artübergreifend durch die Art der produzierten Keimzellen definiert, also Spermien und Eizellen. Männchen produzieren mehrere kleine, bewegliche Spermien, während Weibchen meist unbewegliche, große Eizellen produzieren [14]. Diese Definition ist so grundlegend, dass alle getrenntgeschlechtlichen Lebewesen erfasst werden, inklusive Pflanzen.
Aber zurück zum Menschen. Nachdem nun also feststeht, dass zumindest nach biologischer Definition das Männchen durch die Produktion einer Vielzahl kleiner, beweglicher Spermien definiert wird, während das Weibchen wenige, große, unbewegliche Eizellen herstellt, können beim Menschen weitere geschlechtsspezifische Merkmale herausgestellt werden.
Das wohl offensichtlichste Unterscheidungsmerkmal ist das Geschlechtsorgan: Frauen zeichnen sich durch eine Vagina, sowie Eierstöcke und eine Gebärmutter aus; Männer besitzen Penis, Hoden, Hodensack und Samenleiter. Zusätzlich gibt es Unterschiede in den sekundären Geschlechtsmerkmalen, wie beispielsweise die weibliche Brust oder der männliche Bartwuchs. Während die Geschlechtsorgane eine unmittelbare Funktion für die geschlechtliche Fortpflanzung erfüllen, sind die sekundären Geschlechtsmerkmale nicht unmittelbar für die Fortpflanzung notwendig und meist Ergebnis sexueller Selektion [15, 16].
Auf physiologischer Ebene gibt es für beide Geschlechter charakteristische Sexualhormone. Diese Hormone haben direkten Einfluss auf die Entwicklung der Keimzellen, die Ausprägung der Geschlechtsmerkmale und die Steuerung der Sexualfunktion. Die für Frauen typischen Sexualhormone sind Östrogen und Gestagen, bei Männern ist es das Hormon Testosteron [17]. Auf genetischer Ebene unterscheiden sich beide Geschlechter in den vorhandenen Chromosomen. Der Mensch hat 46 Chromosomen, 44 sogenannte Autosomen und zwei spezifische Geschlechtschromosomen, auch Gonosomen genannt. Frauen besitzen je ein Paar der Chromosomen 1 bis 22 sowie zwei X-Chromosomen, Männer hingegen ebenfalls ein Paar der Chromosomen 1 bis 22 aber nur ein X-Chromosom und zusätzlich ein Y-Chromosom [8]. Hieraus ergeben sich zwei Schlussfolgerungen: Erstens beinhaltet das Y-Chromosom die notwendigen genetischen Informationen zur Ausbildung eines männlichen Erscheinungsbildes; zweitens kommt das X-Chromosom bei Frauen doppelt so oft vor wie bei Männern, wodurch eines der beiden X-Chromosomen inaktiviert werden muss, um die Menge gebildeter Proteine zu regulieren und auf das gleiche Niveau wie bei Männern zu reduzieren [18]. Hierzu wird bereits in der frühen Entwicklung des Embryos eines der beiden X-Chromosomen in weiblichen Zellen stillgelegt, ein Prozess der X-Inaktivierung genannt wird. Das inaktivierte X-Chromosom wird als Barr-Körperchen bezeichnet und lässt sich in allen Körperzellen einer Frau nachweisen [19].
Rein theoretisch sollte die Unterscheidung zwischen männlich und weiblich bei Menschen also recht einfach sein und die beiden Geschlechter sind klar definiert. Wenn die Unterscheidung des menschlichen Geschlechts so simpel ist, warum gibt es dann vor allem beim Sport immer wieder Berichte über Sportlerinnen, die sich auf ihr Geschlecht überprüfen lassen müssen? Was hat es mit dem anfangs erwähnten dritten Geschlecht auf sich, das seit Ende 2018 unter dem Begriff „divers“ eingetragen werden kann? Gibt es also Ausnahmen von den oben aufgeführten geschlechtsspezifischen Merkmalen?
Der Mensch liebt klar voneinander abgrenzbare Kategorien und Definitionen. Nicht umsonst hat es in Deutschland bis zum Jahr 2018 gedauert, bis neben „männlich“ und „weiblich“ auch die Bezeichnung „divers“ als offizielles drittes Geschlecht anerkannt wurde [1]. Die Natur hält von menschlichen Kategorien meist recht wenig und es gibt viele Variationen der oben aufgeführten klassischen, geschlechtsspezifischen Merkmale [20].
Die weiblichen und männlichen Geschlechtsorgane des Menschen entwickeln sich im Embryo aus denselben Anlagen. Die molekularen und zellulären Abläufe dafür finden während der Embryonalentwicklung statt. Die Festlegung des Geschlechts eines Menschen, und von Säugetieren im Allgemeinen, basiert auf den vorhandenen Geschlechtschromosomen, also XX und XY [8]. Ein solcher Mechanismus ist aber nicht universell. Bei vielen Reptilien entscheidet sich das Geschlecht in Abhängigkeit von der Außentemperatur; bei manchen Gliederfüßern, zu denen unter anderem Insekten gehören, wird das weibliche Geschlecht durch die Infektion mit Bakterien der Gattung Wolbachia erzwungen [21, 22].
Beim Menschen enthält das Y-Chromosom die männlich bestimmenden Gene. Das bedeutet vereinfacht ausgedrückt, dass sich in Abwesenheit eines Y-Chromosoms immer eine Frau entwickelt. Sobald ein Y-Chromosom vorhanden ist, entwickelt sich ein Mann [8]. Die Geschlechtsbestimmung betrifft bei Säugetieren und somit auch beim Menschen vor allem die Gonaden. Die Gonaden werden auch als Keimdrüsen oder Geschlechtsdrüsen bezeichnet und sind beim Menschen die weiblichen Eierstöcke oder die männlichen Hoden, in denen einige Sexualhormone und sämtliche Keimzellen, also Eizellen bei der Frau oder Spermien beim Mann, gebildet werden [7]. Man spricht hierbei auch vom gonadalen Geschlecht. Die in den Gonaden gebildeten Sexualhormone bestimmen wiederum die Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale [8]. Im jungen Embryo erfolgt die Entwicklung der Gonaden zunächst bei beiden Geschlechtern gleich. Auf dem Y-Chromosom liegt jedoch ein Gen namens sex-determining region of Y ( SRY ), welches die Entwicklung der Gonade zum Hoden bestimmt. Fehlt das Y-Chromosom und somit das SRY -Gen, entwickeln sich statt Hoden die weiblichen Eierstöcke. Somit ist das Basisprogramm des menschlichen Körpers grundsätzlich die Entwicklung zur Frau, es sei denn, das SRY -Gen verhindert diesen Vorgang [8, 22]. Neben SRY spielt ein zweites Gen eine entscheidende Rolle bei der Ausbildung der männlichen Hoden. Das Gen SOX9 kann die Bildung von Hoden veranlassen, selbst wenn das SRY -Gen fehlen sollte. Erhöhte Mengen des vom SOX9 -Gen gebildeten Proteins sind ausreichend, um die Ausbildung des männlichen Genitaltrakts zu veranlassen, selbst wenn kein Y-Chromosom und somit kein SRY -Gen vorhanden ist. Andersherum kann es bei Gendefekten in der SOX9 -Sequenz zur Ausbildung des weiblichen Genitaltrakts kommen, selbst wenn ein Y-Chromosom vorliegt [22, 23]. Das SOX9 -Gen liegt übrigens nicht auf dem X- oder Y-Chromosom, sondern auf Chromosom 17, also einem Autosom.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Ausbildung der geschlechtsspezifischen Geschlechtsorgane insbesondere vom SRY -Gen des Y-Chromosoms gesteuert wird und bei Vorhandensein des SRY -Gens eine Entwicklung zum Mann veranlasst wird. Fehlen das Y-Chromosom und somit das SRY -Gen, erfolgt eine weibliche Entwicklung [8, 22]. Was aber, wenn das SRY -Gen seinen angestammten Platz auf dem Y-Chromosom verlässt?
In einem von 10.000 Fällen kommt es bei der Entstehung der Keimzellen zur Übertragung des SRY -Gens vom Y-Chromosom auf das X-Chromosom. Einen solchen Vorgang, bei dem Abschnitte zweier homologer Chromosomen ausgetauscht werden, nennt man Crossing-over. Resultat ist eine Person mit zwei X-Chromosomen aber äußerlich männlichen Genitalien (De la Chapelle-Syndrom), auch wenn sich keine Samenzellen entwickeln, die Person also zeugungsunfähig ist [24, 25].
Andersherum kann selbst bei Vorhandensein eines X- und eines Y-Chromosoms ein weibliches Erscheinungsbild auftreten. Wie oben bereits beschrieben, kann dies unter anderem an Defekten in den Genen SRY , SOX9 oder anderen wichtigen Schlüsselfaktoren dieser Signalkette liegen, was bei etwa einem von 80.000 Menschen vorkommt (Swyer-Syndrom) [26]. Ursache kann aber auch ein genetisch bedingter Defekt im Rezeptor für Testosteron sein, was bei etwa einem von 20.000 Menschen vorkommt (Goldberg-Maxwell-Morris-Syndrom) [27]. In allen Fällen führt dies zur Unfruchtbarkeit der betroffenen Personen.
Bei diesen klinischen Erscheinungsbildern besitzen die Personen also Geschlechtschromosomen, die im Gegensatz zu ihrem geschlechtlichen Erscheinungsbild, also ihrem gonadalen Geschlecht, stehen. All diese klinischen Phänomene werden in der Medizin zusammenfassend als Intersexualität bezeichnet. Es kommt also zu Intersexualität, wenn auf den vier Ebenen Geschlechtschromosomen, Sexualhormone, Gonaden und Genitalien manche Ebenen den weiblichen und andere den männlichen Merkmalen entsprechen [28]. An dieser Stelle soll folgendes angemerkt werden: Oft soll der Eindruck vermittelt werden, dass intergeschlechtliche Menschen kein eindeutiges Geschlecht besitzen. Das ist jedoch falsch. Intergeschlechtliche Menschen sind eindeutig intergeschlechtlich. Wir Menschen müssen begreifen, dass nicht alles bedingungslos kategorisiert werden kann.
Das chromosomale Geschlecht bildet die Basis aller weiteren Geschlechtsausbildungen [8]. Neben den oben bereits genannten Variationen bei der Geschlechtsfestlegung gibt es noch weitere Abwandlungen, die die menschliche Geschlechtsfestlegung beeinflussen können.
Beim Klinefelter-Syndrom liegen in den Zellen eines Mannes drei Geschlechtschromosomen vor: XXY. Das ist darauf zurückzuführen, dass bei der Bildung der Keimzellen in den Eierstöcken der Mutter oder den Hoden des Vaters die Aufteilung der einzelnen Geschlechtschromosomen fehlerhaft ablief. Anstatt nur ein Geschlechtschromosom, erhielt die Keimzelle zwei Geschlechtschromosomen. Bei der Befruchtung kam dann ein drittes Geschlechtschromosom hinzu. Das überzählige X-Chromosom stammt in der Hälfte der Fälle vom Vater und in der anderen Hälfte von der Mutter. Da ein Y-Chromosom vorhanden ist, kommt es bei Menschen mit Klinefelter-Syndrom zur Ausbildung männlicher Geschlechtsorgane und männlicher Geschlechtsmerkmale. Das Klinefelter-Syndrom tritt bei etwa ein bis zwei von 1000 neugeborenen Kindern auf, es wird aber schätzungsweise bei gerade einmal einem Viertel der Betroffenen auch diagnostiziert [9, 29, 30]. Die fehlerhafte Aufteilung der Geschlechtschromosomen auf die Keimzellen kann aber natürlich auch zu drei X-Chromosomen führen. Das sogenannte Triple-X-Syndrom tritt bei etwa einem von 1000 Mädchen auf, bleibt im Großteil der Fälle jedoch ohne physische Auffälligkeiten und wird deswegen auch selten diagnostiziert [31]. Schwerwiegendere Krankheitsbilder tauchen bei Menschen mit weiteren Geschlechtschromosomen auf. So wurden bereits Männer mit vier X- und einem Y-Chromosom oder zwei X- und zwei Y-Chromosomen beschrieben, wie auch Frauen mit bis zu fünf X-Chromosomen [30, 32].
Statt zu viele Geschlechtschromosomen können aber natürlich auch zu wenige Chromosomen vorliegen: beim Turner-Syndrom finden sich anstelle von zwei Geschlechtschromosomen nur ein einziges funktionsfähiges X-Chromosom in den Körperzellen. Auch hier passiert der Fehler in der Aufteilung der Geschlechtschromosomen auf die Keimzellen in den Gonaden der Eltern. In den meisten Fällen kommt es auf väterlicher Seite zur Bildung eines Spermiums mit nur 22 Autosomen und keinem Geschlechtschromosom. Das Turner-Syndrom kommt bei etwa einem von 2500 neugeborenen Mädchen vor [33].
Hinter Intersexualität oder Intergeschlechtlichkeit verbergen sich also eine ganze Reihe von Varianten der Geschlechtsentwicklung. Auch wenn die genaue Anzahl an intergeschlechtlichen Menschen in Deutschland abhängig davon ist, welche Erscheinungsformen gezählt werden, kann von einer Häufigkeit von 1:500 intersexuellen Menschen in der Bevölkerung ausgegangen werden [34].
Es ist üblich, die Genitalien von Kindern so zu operieren, dass sie geschlechtlich eindeutig zugeordnet werden können. Eine Studie aus dem Jahr 2019 stellte fest, dass in Deutschland zwischen 2005 und 2016 jedes Jahr durchschnittlich 1871 „feminisierende“ oder „maskulinisierende“ Operationen an Kindern unter zehn Jahren durchgeführt wurden [35]. Bei solchen Operationen wird zum Beispiel eine künstliche Vulva hergestellt, in anderen Fällen wird die Klitoris amputiert oder Keimdrüsen werden entfernt [1]. Es handelt sich dabei um Eingriffe, die nicht medizinisch notwendig sind, sondern um „der Verunsicherung und sozialen Beschämung von Eltern und Kindern" vorzubeugen [1].
Mittlerweile hat die Bundesregierung den Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung vorgelegt. Der Gesetzesentwurf soll das Recht der Kinder auf geschlechtliche Selbstbestimmung schützen und soll zielgerichtete, geschlechtsangleichende Behandlungen von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung verbieten [36].
Eine Vielzahl dieser unnötigen Operationen könnte längst verhindert werden, indem wir den gesellschaftlichen Druck zu vermeintlicher „Normalität“ abbauen würden bzw. unsere Vorstellung von „Normalität“ überdenken würden. Was soll geschlechtliche Normalität nämlich überhaupt bedeuten?
Im Grunde basiert die menschliche Geschlechtsfestlegung nur auf einem Gen: SRY . Kommt es in den Körperzellen vor, wird man genetisch als männlich kategorisiert. Springt das SRY -Gen von seinem eigentlichen Stammplatz, dem Y-Chromosom, auf ein X-Chromosom, wird es bereits kurios: Erhält man beide X-Chromosome, von denen also eines das SRY -Gen enthält, wird man genetisch und physiologisch als männlich kategorisiert, ist aber chromosomal gesehen weiblich. Erhält man ein X-Chromosom und ein Y-Chromosom ohne funktionsfähiges SRY -Gen, ist man chromosomal männlich, genetisch und physiologisch jedoch weiblich. Letztendlich regen die geschlechtsbestimmenden Gene die Produktion geschlechtsspezifischer Hormone an. Wenn diese Hormone aber aus bestimmten Gründen im Körper nicht ausreichend produziert werden können, kommt es zu folgender Situation: Eine solche Person ist genetisch und chromosomal männlich oder weiblich, hormonell und physiologisch jedoch intergeschlechtlich. Auf der anderen Seite kann es aber auch sein, dass die Hormone in normalen Mengen produziert werden, der zelluläre Hormonrezeptor aber in manchen oder allen Zellen nicht funktionsfähig ist. Resultat ist ein Mensch, der genetisch und chromosomal männlich oder weiblich ist, auf hormoneller Ebene männlich, weiblich oder intergeschlechtlich - mit Zellen, die unter Umständen nicht auf die ausgeschütteten Hormone reagieren. Der Körper wäre letztlich eine Mischung aus männlich, weiblich und intergeschlechtlich [37].
Die Geschlechtsfestlegung beim Menschen kann recht schnell verwirrend werden. Was ist also letztlich der entscheidende Faktor für unser biologisches Geschlecht? Ist es gerecht, Menschen danach zu beurteilen?
Jeder Mensch, der aufgrund seiner anatomischen Merkmale problemlos den Kategorien „männlich“ oder „weiblich“ zugeordnet werden kann, könnte auf hormoneller, genetischer oder chromosomaler Ebene durchaus zur jeweils anderen Kategorie gehören. Die Vorstellung von zwei sauber getrennten menschlichen Geschlechtern ist biologisch betrachtet also unhaltbar. Das biologische Geschlecht ist kompliziert. Gesellschaftlich sollten wir schnellstmöglich die Diskriminierung von Menschen aufgrund des biologischen Geschlechts oder der Geschlechtsidentität überwinden. Wer kennt denn schon seine Geschlechtschromosomen, seine Gene oder seine Sexualhormone?
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